Anderswelt
Mittwoch, 5. Dezember 2012
Mittwoch, 5. Dezember 2012
Aus dem Hörer meines Handys kamen auf einmal diese seltsamen Stimmen: Sprachfetzen, sich wiederholende kurze Sätze, offenbar kurze Mitteilungen von irgendwem für irgendwen. Mein Handy hatte von alleine diese Nummer gewählt. Wie lange war es schon verbunden, und wie hoch wird nun meine Telefonrechnung sein, da ich ja keine Telefonie-Flatrate habe? Und wie konnte das überhaupt passieren?
In den Kontakten war dieser neue Eintrag mit der Nummer „4035“ – woher kam dieser Eintrag, und was hatte er zu bedeuten? Durch eine Google-Suche erfuhr ich, daß es sich dabei um eine „geheime Nummer“ handelte, unter der sich Leute anonym einwählen konnten. Jeder konnte dort kurze Nachrichten hinterlassen, die dann immer wieder der Reihe nach abgespielt wurden, und wer sie hörte und auf eine von ihnen antwortete, befand sich plötzlich auf wundersame Weise in dieser „Anderswelt“…
Als ich diese Welt zum ersten Mal betrat, schien die Sonne, und ich befand mich auf einem sandigen Platz, umgeben von den rückwärtigen Fassaden der „Außenwelt“. Es ist wie eine kleine, versteckte Parallelwelt, von der offenbar niemand mehr etwas weiß. Mir fiel aber gleich auf, daß etwas hier ganz anders ist als „draußen“: Die Menschen. Alle hier sind vollkommen unbeschwert – fast kindlich irgendwie. Du kannst hier ganz „du selbst“ sein, ohne Sorge, von anderen schief angesehen zu werden. Es gibt keine Feindseligkeit und somit keinen Grund, dich zu verstellen, zu verschließen oder mißtrauisch zu sein. Etwas, das „draußen“ unmöglich wäre.
Ich sagte zu meinem Begleiter – einer der Stimmen, denen ich geantwortet hatte -, daß es doch seltsam ist, daß ein solcher wundervoller Ort überhaupt existiert, ohne daß er von den Menschen draußen überhaupt beachtet wird. Wie kann so etwas sein?
Beim Herumspazieren traf ich auf verlassene, angerostete Baumaschinen und eine Art Bauruine – hier hatte wohl mal ein Fußballstadion entstehen sollen, aber anscheinend hatte es sich nicht mehr „gelohnt“, hier weiterzubauen. Anscheinend handelte es sich bei diesem Ort um verlassenes „Brachland“, das von den Menschen „draußen“ längst vergessen wurde und daher aufgegeben wurde. Dennoch gibt es hier auch Gebäude, die noch gut in Schuß sind und in denen Menschen wohnen.
Diese verborgene, aber immer schon dagewesene Welt liegt mitten im Hier und Jetzt – und scheint doch den Meisten verborgen zu sein. Nur ganz wenige Menschen scheinen davon zu wissen und dorthin zu gelangen.
Ich erfuhr, daß es viele solcher Orte gibt, in fast jeder Stadt – die Eingänge sind überall, aber die meisten Menschen draußen sind „blind“ – sie können die Einfassungen und die Zugänge zu dieser Welt zwar wahrnehmen, aber nicht als solche erkennen. Auch ich war jahrelang an „diesem komischen Zaun da“ vorbeigegangen, ohne mich zu fragen, was eigentlich dahinter ist. Nun weiß ich es, und ich werde dieses wertvolle Geheimnis hüten. Es wäre schade, wenn dieser besondere Ort von den „falschen“ Menschen entdeckt und in Beschlag genommen würde.
Mein Begleiter führte mich zu dem Eingang eines Gebäudes, in dem er wohnte. Es gab dort sowohl Gemeinschaftsräume als auch separate Wohnungen. Es kam mir alles schon sehr vertraut vor – als ob ich schon länger hier gewesen wäre. Dabei bin ich doch eigentlich neu hier und bin sicherlich auch noch nicht in alle „Geheimnisse“ dieser Anderswelt eingeweiht. Aber ich würde gerne etwas länger hierbleiben und mehr von dieser Welt erfahren. Zwar bin ich noch kein ständiger Bewohner dieser Welt, aber immerhin kenne ich jetzt den Zugang und kann jederzeit wiederkommen.